NEIN! Wir lassen uns nicht verdrängen!

Dienstag, 28. Oktober 2008

La vostra crisi non la paghiamo noi

Durch Italien weht ein Wind des Protestes und der Empörung: Jugendliche rebellieren landesweit an Schulen und Hochschulen gegen die Bildungspolitik der Berlusconi - Regierung, gegen Sparmaßnahmen in Milliardenhöhe, gegen Kommerzialisierung und Privatisierung von öffentlichen Bildungsanstalten. In diesem Umfang vielleicht etwas völlig neuartiges, ein zweites 1968? Nein, hoffentlich noch viel mehr, denn ein Ende dieser friedlichen, fröhlichen, bunten und lauten Revolte, die bis in die hintersten Winkel des Landes reicht, ist nicht absehbar. La vostra crisi non la paghiamo noi - wir werden eure Krise nicht ausbaden!

Die "Reform"

In wenigen Worten: es handelt sich im Kern um Sparmaßnahmen, die alle Bereiche des Bildungswesens, von der Grundschule zur Universität, betrifft. Das Gesetz Nr. 133, das zur Zeit im italienischen Parlament verhandelt wird, sieht die Einsparung von über 8 Mrd. Euro in den kommenden 5 Jahren vor. Erreicht werden soll das durch Nichtverlängerung von ca. 140.000 prekären Arbeitsverträgen im Schul- und Hochschulbereich sowie die Schließung zahlreicher kleiner Grundschulen in ländlichen Gegenden. Zudem ist die Kommerzialisierung der Hochschulen, der zwangsweise Verkauf von Gebäuden zur Haushaltsdeckung bis hin zur völligen Privatisierung vorgesehen.

Als besonderes Schmankerl hat die rassistische Lega Nord die Forderung nach getrennten Schulklassen für Ausländerkinder, die nciht ausreichend Italienisch können, eingebracht.

Der Protest

Der Protest entzündete sich in erster Linie am Angriff auf das öffentliche Bildungswesen. Seit September gab es Protestaktionen und Demonstration, die in den letzten zwei Wochen lawinenartig zunahmen.

Am 10. Oktober eine erste Welle von großen Demonstrationen in Dutzenden Städten mit einigen Hunderttausend Schülern, Lehrerinnen, Eltern, Schul- und Universitätspersonal. 40.000 Schüler und Studenten ziehen in Rom vor das Bildungsministerium

Am 17. Oktober landesweiter Streik der Basisgewerkschaften COBAS, RdB-Cub und SdL. Ca. 2 Millionen schließen sich dem Streik an, die höchste Beteiligung in der Geschichte der linksunabhängigen Gewerkschaften. Weite Teile des Bildungssektors sind lahmgelegt, aber auch öffentlicher Nahverkehr und Gesundheitswesen und viele Behörden sind betroffen. Auch im Bahnverkehr gibt es Streichungen; Feuerwehrleute und Flugpersonal, aber auch viele vor allem prekär Beschäftigte von Call-Centern oder Ketten wie IKEA beteiligen sich am Ausstand. Zur zentralen Demo in Rom kommen 300.000 Menschen, darunter viele Schülerinnen und Studenten aus der wachsenden Zahl von bestreikten und besetzten Schulen und Universitätsfakultäten.

Seither reißen Demonstrationen, öffentliche Versammlungen und Besetzungen von Schulen und Fakultäten nicht ab. Bis in den tiefen Süden, in kleine, verschlafene Provinzstädtchen breitet sich die Protestbewegung wie ein Steppenbrand aus. Ein guter Gradmesser dafür ist die Masse an Videos, die man auf Youtube findet, wenn man nach dem Namen der Bildungsministerin "Gelmini" sucht. Dort findet sich das mit dem Handy gemachte Kurzvideo von der kleinen Demo in den Gassen von Pitigliano neben imposanten Großdemos von 50.000 in Florenz. Vom 1. Oktober bis heute sollen laut Innenministerium 300 Demonstrationen stattgefunden haben und aktuell sollen 150 Schulen und 20 Fakultäten besetzt sein. Das scheint eher stark untertrieben. Nach Informationen der Protestbewegung sollen allein in Neapel bis heute 60 höhere Schulen besetzt worden sein, in der Region Kampanien 120.

Ds Klima ändert sich. Als am Morgen des 21. Oktober das besetzte Sozialzentrum "Horus" in Rom geräumt wird und der neofaschistische Bürgermeister Alemanno dies zum Anfang einer Reihe von Räumungen erklärt, wird dies zum Auslöser eines weiteren Brennpunkts des Protests. Bis zum Abend versammeln sich 5.000, eine ungewöhnlich große Zahl, normalerweise wären es wohl deutlich weniger gewesen. Die Leute vom Sozialzentrum wurden heute auf der Demonstration, die zum Senat zog, von den Studenten herzlich begrüßt; allerdings haben sie sich überzeugen lassen müssen, die Helme abzulegen, als eine Konfrontation mit der Polizei drohte. Hier gibt es also noch kulturelle Defizite ;-)

Politisches Theater I: 22. Oktober: Berlusconi droht

In einer Pressekonferenz zusammen mit Ministerin Gelmini verkündet Berlusconi, dass die Besetzungen von Schulen und Unversitäten beendet werden müssten. Er werde noch am Abend mit Innenminister Maroni das Einschreiten der Ordnungskräfte detailliert besprechen. Die Presse wird von Berlusconi aufgefordert, die "Wahrheit" zu schreiben, im Übrigen müssten sie sich daran gewöhnen, dass er noch weitere viereinhalb Jahre Premierminister sein werde. Die Aufzeichnung ist alsbald dutzendfach auf youtube zu sehen und zieht tausend wütende Kommentare an. "Diktatur" und "du wirst enden wie Mussolini" ist der Tenor

Politisches Theater II: 23. Oktober: Cossiga provoziert und Berlusconi macht sich lächerlich

In einem Zeitungsinterview des "Quotidiano Nazionale" meldet sich der 80-jährige Senator auf Lebenszeit, Ex-Minister- und Staatspräsident Francesco Cossiga zu Wort; es liest sich wie eine ungeheuerliche Provokation, aber für solches steht der Name Cossiga wie kein zweiter in Italien. Cossiga, der als Innenminister die Unruhen des Jahres 1977 niederschlagen ließ - wobei es in Bologna und Rom Tote gab - gilt als einer der Architekten der "Strategie der Spannung" jener Jahre, und er hat wohl nichts verlernt: er schlägt vor, Provokateure in die Bewegung einzuschleußen, die ein paar für Tage Chaos und Verwüstung sorgen, um dann mit eiserner Hand zuzuschlagen. Von Festnahmen hält er wenig, da man die ja dann doch gleich wieder freilassen würde, stattdessen empfiehlt er die Demonstranten krankenhausreif zu schlagen. Für ihn ist sowieso klar, dass es auch wieder zu Terror kommen wird, denn die Roten Brigaden seien auch nicht in den Fabriken, sondern in den Universitäten entstanden. Soweit der "Onorevole" Cossiga, dessen Auftritte in den letzten Jahren immer wieder für Wirbel gesorgt haben, den er sichtlich zu genießen scheint. Ist es grenzenloser Zynismus oder macht er sich nur einen Scherz mit Berlusconi, den er verachtet? In seiner aktiven Zeit hat er jedenfalls nicht seine Rezepte im Voraus verraten.

Plötzlich scheint es sich Berlusconi anders überlegt zu haben: aus Peking, wo er gerade zu Gast ist, lässt er verlautbaren, er habe nie den Einsatz der Polizei in den Schulen erwogen. Das sei ein Missverständnis der Presse, die ihn immer falsch verstehen wolle. Komischerweise war am Morgen noch in einem seiner eigenen Blätter, "Il Giornale", beifällig von des Meisters Entscheidung berichtet worden (im Web wurde das dann schnell wieder wegkorrigiert). Komischerweise ist die Videoaufzeichnung vom Vortag aber kein Missverständnis, sondern real, muss also wohl ein Klon gewesen sein, der da gesprochen hat. In der Sache bleibt Berlusconi dabei, dass die Besetzungen aufhören sollen, man müsse die Schüler und Studenten aber davon "überzeugen" aufzugeben. Wie dies geschehen soll? Er wisse schon wie, aber er wolle keine Schlagzeilen produzieren.

Nebenbei meldet sich dann auch noch der Verteidigungsminister zu Wort, der durch die Blumen zu verstehen gibt, dass es gar nicht gut gewesen wäre, wenn Berlusconi so etwas gesagt hätte und dass er doch besser dazu nichts mehr sagen sollte. Kurz, Berlusconi macht eine schöne "figura di merda", wie man in Italien sagt.

Spaß beiseite: Ein neues '68?

Es gibt durchaus sowohl Befürchtungen als auf Hoffnungen in dieser Hinsicht, je nach Standpunkt. Die Regierung zumindest scheint dies zu befürchten, denn die Aufregung und Verwirrung, die die Ereignisse verursachen, ist vielsagend. Es werden die Polizeibehörden zu besonderer Wachsamkeit gegenüber den Vorbereitungen zu den geplanten Großdemonstrationen am 30. Oktober und 14. November aufgerufen.

Es wird vieles davon abhängen, ob die Schüler und Studentinnen alleine bleiben. Manches spricht dafür, dass das nicht so ist. Lehrerinnen und Eltern sind schon jetzt stark einbezogen, und die Masse der prekär Beschäftigten in Forschung und Lehre auch.

.... oder gar die erste europäische Revolte im Zeichen der Weltwirtschaftskrise?

Auch diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten. Tatsache ist: Die zentrale Parole, von Mailand bis Palermo - in grammatikalischen Varianten - ist "Vostra crisi non la pagheremo noi" - Eure Krise werden wir nicht bezahlen. Die Krise - obwohl sie noch nicht im Kontext der "Reform" einbezogen war - spielt im Bewusstsein der gegenwärtigen Protestbewegung eine Rolle. Noch sind die Proteste friedlich. Es gab nur wenige Auseinandersetzungen mit der Polizei, die teilweise selbst nicht recht zu wissen scheint, wie sie mit den zahlreichen "Verstößen" durch an allen Ecken und Enden ausbrechenden "wilden" Demonstrationen, Besetzungen von Schulen, Fakultäten, Verkehrsblockaden und Bahnhofsbesetzungen umgehen soll. In Mailand gab es am 21. Oktober einen Knüppeleinsatz gegen 2.000 Studenten, die den Bahnhof Cadorna besetzen wollten, aber dies war auch der einzige bemerkenswerte Zwischenfall bisher.

Gefahren? Ja. Chancen? Auch.

Ja, zweifellos gibt es Gefahren. Zunächst zu den inneren Gefahren. An verschiedenen Orten hat die neonazistische Forza Nuova Versuche zur Querfrontbildung unternomen oder sich gar zum Protagonisten der Bewegung gemacht (neonazistisch und nicht neofaschistisch nenne ich sie, weil sie mit einem frappanten Antisemitismus mehr der NSDAP als dem klassischen italienischen Faschismus nahestehen und gut Freund mit der NPD sind). Diese Herrschaften haben einseitig den Burgfrieden mit der Linken verkündet, was auch nichts Neues ist, denn das haben "staatsfeindliche" Rechtsextremisten schon in den 80ern versucht. Neu ist nur, dass inzwischen die von ihnen als Verräter angesehenen Postfaschisten der Alleanza Nazionale mit Berlusconi regieren. Eine schwierige Situation, der sich die "Bewegung ohne Parteifahnen" gewachsen zeigen muss.

Diese Gefahren gibt es vor allem, weil sich der "Kommunismus" (in Parteiform) in Italien von der größten KP der westlichen Welt in einen traurigen Trümmerhaufen verwandelt hat. Unmittelbar nach dem Fall der Mauer hatte die PCI nichts Eiligeres zu tun, als sich umzubenennen (bezeichnenderweise in PDS). Der Kommunismus war in Italien durchaus eine Macht gewesen - bei den Arbeitern und "kleinen Leuten", die daran glaubten, die mit Stolz und zu Zehntausenden mit roten Fahnen samt Hammer und Sichel "in piazza" gingen. Dieses Gefühl des "rosso nel cuore", im Herzen rot, war eine widersprüchliche Mischung aus Reformismus, mit Spuren von Stalinismus und mittelmeerischem Anarchismus. Der Kommunismus der Funktionäre hatte jahrzehntelang den roten Traum genährt und gleichzeitig betrogen. Als Togliatti 1944 aus dem sowjetischen Exil zurückkam und den Partisanen, die für den Sozialismus kämpften, die sowjetische Linie der antifaschistischen Einheitsfront mit den bürgerlichen Kräften verordnete; als Berlinguer mit seinem Eurokommunismus einerseits die Emanzipation von Moskau, anderererseits auch mit der Linie des "Historischen Kompromisses" auch den Wunsch nach Regierungsfähigkeit mit der Komplizenschaft bei der Niederschlagung der radikalen Linken 1977 bekräftigte... Der größere Rest der alten PCI ist als solcher nicht mehr vorhanden; Kommunismus ist zum Universalschimpfwort der vom Berlusconismus verblödeten Massen geworden, die inzwischen selbst einen Prodi für einen "Kommunisten" halten. Dazu haben die Mehrheitsrestkommunisten selbst beigetragen, die mit ihrem Versuch, sich auf der Blair-Schröder-Linie zu sozialdemokratisieren, gründlich gescheitert sind. Die kommunistische Minderheit, die noch Hammer und Sichel in der roten Fahne spazierenträgt, PRC und PCdI, haben bei den letzten Wahlen im Regenbogenbündnis gemeinsam mit den Grünen mit gerade einmal 3% ihr Waterloo erlebt.

So kommt es, dass die jetzige Massenbewegung an Schulen und Universitäten als "führungslos" erscheinen mag. Und die (scheinbar) führungslose Masse läuft in Gefahr, entweder Wölfen zum Opfer zu fallen oder vom Schäfer wieder in den Stall geführt zu werden. Von den Wölfen hatten wir es schon. Der Schäfer in Form der zur Unkenntlichkeit verkommenen "Linken" bereitet sich allmählich vor, das Kommando zu übernehmen. Interessant wird es werden, ob die staatsfrommen Großorganisationen (die Triade CGIL-CISL-UIL auf Gewerkschaftsseite und UdS/UdU auf Schüler und Studentenseite) mit ihrem Eingreifen beim landesweiten Streiktag am 30.10. die Hegemonie über die bisher weitgehend autonome Bewegung übernehmen können und/oder ob die Faschisten als Wölfe im Schafspelz sich festsetzen können.

Die dritte Möglichkeit wäre die beste: wirkliche Autonomie der Bewegung. Dann könnte es noch spannend werden.

The Revolution Will Not Be Televised?

Das zuverlässigste, vielleicht sogar einzige Mittel um einen Eindruck von der Verbreitung der Revolte an italienischen Schulen und Hochschulen zu bekommen ist zur Zeit Youtube. Indymedia Italien und seine regionalen Knoten sind dagegen leider sehr unergiebig. In den Jahren 2001-2003 war Indy Italy noch die Anlaufstelle Nummer eins für alternative Nachrichten aus Protestbewegungen gewesen, heute ist das nicht mehr so. Dagegen quillt Youtube geradezu über von Filmchen, die quasi im Minutentakt einlaufen, um von Versammlungen, Schulbesetzungen, Demonstrationen im ganzen Land zu berichten. Meist sind die Videos von den Schülerinnen und Studenten selbst gemacht, in der Qualität von sehr bescheiden bis semiprofessionell, ab und zu auch Berichte von meist regionalen Fernsehsendern.

Aber hier machen wir ja keine Filmkritik. Es geht um das Phänomen einer sich mit unerhörter Dynamik ausbreitenden Protestbewegung, zu der heutige technische Mittel, angefangen vom videofähigen Handy über SMS und Internet sicher stark beitragen. Diese Möglichkeiten gab es weder 1968 noch 1977, und auch bei der "Pantera"-Bewegung Anfang der 90er steckten diese Techniken noch in den Kinderschuhen bzw. waren noch nicht einmal angedacht. Vielleicht werden spätere Generationen mal Dissertationen über dieses Thema schreiben...

Politisches Theater zum Dritten: 24. Oktober: Berlusconi spricht von "Verbrechern"

Die Protestwelle rollt weiter. Berlusconi hat die Wut mit seinen Aussagen nur angestachelt. Heute hat er wieder einmal einen draufgesetzt: Es wären Verbrecher unter den Demonstranten, nein, es seien nicht viele, aber sie seien da und sie würden von der Presse hofiert. Berlusconis Geschwätz schreckt niemanden wirklich. Wahrscheinlich wird er das morgen wieder "nie gesagt" haben.

Cossigas Interview gibt inzwischen neben viel Empörung und besorgten Erinnerungen an die G8 von Genua auch Anlass zu Spott. Auf dieser Schülerversammlung in Modena wird das Interview als Sketch vorgetragen (ab Minute 3:48). Die SchülerInnen haben sich köstlich amüsiert. Vielleicht ist das naiv. Aber wie heißt es noch so schön: Unser Lachen wird euch begraben!

Politisches Theater IV: 25. Oktober: Große Aufführung der parlamentarischen Opposition

Die politschen Bankrotteure von der PD (Demokratische Partei) wollen es heute geschafft haben, über 2 Millionen in Rom gegen die Berlusconi Regierung zu versammeln. Ob das eine gute oder schlechte Nachricht ist, lasse ich einmal dahingestellt. Wenn das ganze "Programm" nur darin besteht, gegen den "mafiösen Zwerg" zu sein, kann man sich das schenken. Zweimal hätten sie die Möglichkeit gehabt, die mediale Macht des großen Manipulators zumindest einzudämmen. Sie haben sie nicht genutzt. Ihre sonstige politische Praxis war der übliche Neoliberalismus "light". Ob es um Arbeiterrechte ging, ob um die Migrationspolitik oder die Beteiligung Italiens an den Kriegen in Afghanistan und Irak: nirgends ein essentieller Unterschied zur alten und neuen Berlusconi-Regierung. Und die "radikale" parlamentarische Linke in Form von PRC, PCdI und Grünen hat sich mit der erneuten Kollaboration mit diesen Herrschaften selbst das Grab geschaufelt. DAS haben sie immerhin erreicht, die Herren Veltroni, D'Alema, Prodi und Co. Deshalb macht es eher wütend, wenn die heute nach alledem eine Megademo zustande bringen.

Natürlich wurde von Veltroni gefordert, das Gesetzesdekret zur "Bildungsreform" zurückzuziehen. Natürlich wurde wieder einmal so getan, als hätte man nicht vor kurzem noch regiert und nicht selbst eine "Regierung, die nur den Mächtigen nützt" geführt, wie sie es jetzt Berlusconi vorwerfen. Und ob es nun 2,5 Millionen waren, wie von der PD behauptet, oder nur 800.000, wie von der Polizei verlautbart – wer auf diese politische Kaste noch ernsthafte Hoffnungen setzt ist selber schuld. Aber die wirkliche Musik spielte auch heute wieder woanders...

"1968-2008 - La lotta continua"

So war es heute auf einem Transparent der Demonstration von Tausenden in Lecco zu lesen, die in einem schönen Video zu sehen ist. Lecco haben die meisten vielleicht noch nie gehört, muss man auch nicht. Man muss auch kein Italienisch verstehen, um sich an der Stimmung, die solche Bilder erzeugen, einfach nur zu erfreuen. Lecco, eine Stadt von knapp 50.000 Einwohnern am Comer See, Lombardei, mittem im Herzen des Berlusconismus und der Lega Nord, heute, am 25. Oktober 2008.

In Triest waren heute über 10.000 auf den Straßen. Auf einem Transparent eine Anspielung auf den italienischen Bankenriesen Unicredit: "UniCredite oder Universität? Wir werden die Krise nicht bezahlen". Auch nicht schlecht die 20.000 in Pisa am 23. Oktober.

Putignano, eine Kleinstadt in der Provinz Bari, Apulien, am 23.10. Catanzaro, Kalabrien, 24.10. Verdammt laut ist es da. Stadionatmosphäre.

Battipaglia, Provinz Salerno, Kampanien. Cosenza, Reggio Calabria am 25.10, Tausende und Abertausende auf den Straßen. Überall. Vor allem der sonst so apathische Süden scheint geradezu zu explodieren. Sizilien, scheinbar fest in der Hand Berlusconis, ebenfalls. Palermo, Catania, Siracusa, aber auch kleine Nester im Landesinnern, Provinz Enna berichten von Demos und besetzten Schulen. Ähnlich auch Sardinien. Das ist ein Flächenbrand.

OK, genug Videos. Wer Zeit und Lust hat, sucht selbst. Stichwort "Gelmini" auf Youtube.

Metropole und Peripherie - die Allgegenwart der Bewegung

Interessant ist zu beobachten, wie sich in den großen Städten, vor allem Rom und Neapel die Proteste zunehmend in die Stadtviertel und die Peripherie verlagern. Ausgehend von Schulversammlungen zieht man im eigenen Viertel los, stößt auf Demos von benachbarten Schulen und schnell sind wieder ein paar Tausend irgendwohin unterwegs. Mit zentralen, "organisierten" Demos hat das alles längst nichts mehr zu tun. Da können schon mal ein halbes Dutzend Demos gleichzeitig in verschiedenen Stadtvierteln unterwegs sein. Die Wege sind wild und unergründlich. Die Polizei kann nicht mehr tun als irgendwie den Verkehr zu regeln.

So wie die Demos in die Stadtviertel der Großstädte gehen und nicht in die üblichen zentralen Plätze organisierter Demos, so durchziehen sie immer mehr das platte Land. Durch die Allgegenwart dieser Demonstrationen und Protestaktionen wird die Hetze gegen die Bewegung natürlich immer schwerer. Die Leute im Stadtviertel oder im Städtchen kennen ihre "ragazzi", die zudem noch oft ihre eigenen Kinder sind. Wie soll das funktionieren, Kriminelle und Terroristen aus ihnen zu machen? Die Friedlichkeit und Heiterkeit der Bewegung ist ungebrochen, aber auch die Entschlossenheit, keine Ruhe zu geben. Natürlich mögen viele der Jüngsten nicht wirklich kapieren, worum es geht und mehr der Gaudi halber dabei sein. Aber von Fernsehsendern interviewte Schüler geben immer wieder sehr informierte und sehr eloquente Antworten. Nein, das ist kein Haufen Kids, der nur mal eben Rabatz machen will. Das ist eine Generation, die durchaus ahnt, dass die heraufziehende Weltwirtschaftskrise schwer auf ihrer Zukunft lasten wird.

Die nächsten Wochen werden zeigen, was wird. Das Berlusconi-Regime hätte nichts lieber als Gewalt. Manche verstehen Cossigas Worte durchaus auch als versteckte Botschaft, als "freundschaftliche" Warnung vor diesen Absichten. Nun mag man einem Cossiga wahrlich keine Sympathie für eine neue Jugendbewegung dieses Ausmaßes unterstellen, aber diese Lesart hat ihre Berechtigung. Immer vorausgesetzt, dass die Jugendlichen nicht den Kern des Systems antasten. Die Frage ist ob das so bleiben wird.

Erstveröffentlichungen: de.inymedia.org

Ein riesiges Dankeschön an den/die VerfasserIn oder die VerfasserInnen dieser beiden Artikel!

Sonntag, 19. Oktober 2008

Langenzenn: Attacken gegen Jugendzentrum

»Die sind doch selber schuld«

CSU- Bürgermeister sieht keinen Zusammenhang mit »Bunt statt Braun«-Transparent

Von Leonhard F. Seidl
Bereits zum dritten Mal wurde Mitte dieser Woche das Jugendzentrum »Alte Post« im mittelfränkischen Langenzenn mit Farbbeuteln beworfen. Der vermutliche Auslöser: Ein »Bunt statt braun«-Transparent, das im bayerischen Landtagswahlkampf angebracht worden war, um NPD-Plakaten zu trotzen. Ein Mitarbeiter des Bauhofs der Stadt in grellorangefarbenem Anzug, der am Donnerstag zufällg an der »Alten Post« vorbeikam, kommentierte: »Die sind doch selber schuld, wenn die ein Plakat raushängen, wo einer ein Hakenkreuz in den Mülleimer wirft.« Die Anschläge reihen sich ein in eine Vielzahl neonazistischer Umtriebe in der Region um Fürth.

Das Haus, das an einer vielbefahrenen Straße liegt, wurde erstmals im September durch Farbeierwürfe verschandelt. Das Transparent »Bunt statt braun« wurde in der gleichen Nacht geklaut. Die Jugendlichen, die sich hier treffen, wollen das Plakat nicht abnehmen und sich nicht aus der Politik raushalten, wie bürgerliche Stimmen immer wieder forderten. Sie positionieren sich bewußt gegen rechts und organisieren zum dritten Mal das jährliche Open Air »Bunt statt braun«. Das wurde ins Leben gerufen wurde, weil Neonazis Schulhof-CDs verteilten und Aufkleber klebten. Carsten Kurtz, der Sozialarbeiter der »Post«, sagt: »Wir wollen diesen Hohlschädeln nicht Recht geben, indem wir das Plakat abhängen«. So kam ein neues Banner an die Wand, das dort hing, bis es vom Wind eingerissen wurde. Auch Sabine Gillinger vom Vorstand des Fördervereins der »Post« will »aufgrund der Geschehnisse nicht klein beigeben.«

Von Stadt und Polizei werden politische Hintergründe negiert. Bürgermeister Jürgen Habel (CSU) denkt nicht, daß die Farbwürfe politisch motiviert waren: »Einige Jugendliche nehmen die Post nicht an«, sagt er. Da ist er einer Meinung mit der Polizei, die gegen unbekannt ermittelt. Habel sieht auch keinen Zusammenhang zwischen den Anschlägen und den Schmierereien in der Stadt. Erst auf Nachfrage ordnet er den im Juni mit Hakenkreuzen und den Worten »Autonome Nationalisten« besprühten Bahnhof und weitere beschmierte Mauern als politisch ein. »Es gibt Ausreißer nach rechts und links«, so Habel. Die Hakenkreuze waren eine knappe Woche zu sehen, zwei sind immer noch vorhanden, weder Bahn noch Stadt haben sie entfernt. Unbekannte übersprühten die Hakenkreuze schließlich.

Im vergangenen Jahr war der »Weltladen« im Visier. Dessen Scheibe wurde eingeworfen, Mitarbeiter wurden beschimpft, fühlten sich bedroht, die Wände wurden mit NPD-Aufklebern verunstaltet. Nach wie vor wird die Scheibe bespuckt. Die Nachbarn, so der Vorsitzende des Weltladens Volker Rücker, »machen die Augen zu, um keinen Ärger zu haben.«

Die Region Nürnberg/Fürth ist seit Jahren Zentrum neofaschistischer Aktivitäten: Unter anderem wurde das Haus einer couragierten Familie in Fürth zweimal in Folge verunstaltet, und die Reifen ihres Pkw wurden zerstochen. Die Urheber einer mittlerweile gestoppten Anti-Antifa-Website bekannten sich zu der Tat. Die Nürnberger Polizei identifizierte mit auf der Neonazihomepage veröffentlichten Fotos zwei Antifaschisten und nutzte die Bilder für ihre Ermittlungen. Erst nach massiven Protesten Betroffener wurde die Seite geschlossen.

Erstveröffentlichung: junge Welt (17.10.08)

Für weitere Informationen über "Langenzenner Verhältnisse" siehe auch:
http://de.indymedia.org/2008/07/221278.shtml

Deutsches Blog Verzeichnis